Überfluss und Mangel: Moonrise Kingdom ist eine fast perfekte Versuchsanordnung im Wes Anderson’schen Puppenhaus.
Nichts ist kindischer als die Welt der Erwachsenen. Denn eigentlich ist die Sache doch ganz klar: Der zwölfjährige Waisenjunge Sam (Jared Gilman) liebt die depressive Anwaltstochter Suzy (Kara Hayward), und Suzy liebt Sam. Aber die Erwachsenenwelt findet solch präpubertäre Romanzen quer durch die sozialen Klassen ungebührlich und setzt darum alles in Bewegung, um sie erstens zu verkomplizieren und zweitens zu verunmöglichen. Und so jagen nach einiger Zeit ein Pfadfinderführer mit Generalsallüren (Edward Norton), zwei im Ehewahnsinn gefangene Juristen (Bill Murray, Frances McDormand), ein leicht verpennter Dorfpolizist (Bruce Willis) und eine dämonische Sozialarbeiterin (Tilda Swinton) auf einer winzigen Insel im Neuengland der 1960er Jahre nach den runaway lovers.
Bei Moonrise Kingdom befinden wir uns von Anfang an in vertrautem Wes-Anderson-Gebiet. Und wie in den besten seiner Filme gelingt dem Texaner auch hier wieder das Kunststück, zugleich exzessiv und gehemmt zu erzählen, im Überfluss zu schwelgen und dennoch am Mangel zu leiden. Die eine Tendenz bedroht dabei permanent die andere: Sets, übervoll an optischem Kleinkram, durchkomponiert bis hin zur stimmigen Musterung von Lampenschirm und Spitzendeckchen, werden von rigiden, fast zwanghaft symmetrischen Kadern im Zaum gehalten, von millimetergenauen Schwenks und mechanischen Fahrten entlang der Höhen- und Seitenachsen zerteilt. Farben, so knallig wie selten im amerikanischen (Indie-)Kino, scheinen wie festgezurrt an den unzähligen handlungstragenden Gegenständen, die jedem Vintage-Fetischisten Tränen in die Augen treiben müssen: tragbare Plastik-Plattenspieler, Anderson-typische Koffersets aus Leder und Holz, Pfadfinder-Ehrenaufnäher usw. Obendrein die Figuren: mehr Neurosen und Marotten als Finger an den Händen und dabei doch nur Gefangene in den Abgründen von Automatismus, Melancholie und Weltentfremdung. Zumindest die Erwachsenen.
Es ist diese Spannung, die Andersons Stil vom reinen „Style“ emanzipiert: Ja, er ist hoffnungsloser Ästhet, der seinen idiosynkratischen Vorlieben ausgeliefert ist, und nein, er zelebriert die zugegebenermaßen berauschenden Oberflächen nicht zum Selbstzweck. Das unterscheidet seinen gehemmten Überschwang von Filmen wie beispielsweise Richard Ayoades Submarine (2009), die sich letztlich eher als Shopping-Guide für den nächsten Flohmarktbummel eignen, als dass sie emotional aufrichtig wären. Bei Anderson sind die Menschen auch immer zwischen dem ganzen nerdigen Tand wie eingeklemmt, sind den Gegenständen ausgeliefert, weil sich gewisse, schwer zu kommunizierende Sehnsüchte wie von alleine in Uniformen, Megafone oder Ferngläser übersetzen. Die Kinder wissen darum, und so ist Suzys Fernglas ein magischer Gegenstand, der ihre Sehnsucht nach Nähe des Fernen einfach wirklich macht.
Wes Andersons Kinder sind hier einmal mehr schlecht getarnte Idealversionen der Erwachsenen: mit rücksichtloser Ehrlichkeit sagen sie einander stets unumwunden die Wahrheit, finden auch immer die wenigen nötigen Worte, um sich zu sagen, was sie lieben, was sie hassen, was sie wollen, was sie fürchten. Einmal streiten sich Suzy und Sam, und sie verkriecht sich ins knallgelbe Zelt. Er braucht nur eine Bewegung, um den Reißverschluss zu öffnen, der Film nur einen Schnitt, um alles wieder gutzumachen: „I’'m sorry. I’m on your side.“ Die Erwachsenen, die wahren Kinder, hingegen verlieren sich in ihren Rollenspielen von Räuber und Gendarm, Ehemann und Geliebtem, Vollstreckungsbeamten und Gericht. In einer späten, haarsträubenden Rettungsszene auf dem Kirchturmdach mitten im Gewittersturm streiten sich der Polizist, die Sozialarbeiterin und die Anwälte per Walkie-Talkie über rechtliche Kleinigkeiten, während die jungen Liebenden gemeinsam in die Freiheit oder den möglichen Tod springen wollen.
Andersons Figuren- und Bilderensembles vermitteln in ihrer visuellen Manierlichkeit natürlich auch immer den Eindruck einer Versuchsanordnung. Zu viel sichtbare Kontrolle, zu viele Schichten der Verfremdung lassen das Geschehen stets als von außen determiniert erscheinen. Jede Volte, jede Überraschung ist geplant. Das führt zur einzigen echten Schwäche des Filmes, und vielleicht von Andersons Stil insgesamt: in einer Welt, in der jedes Objekt genau den Quadratzentimeter besetzt, den es besetzen soll, in der jede Kauzigkeit in die andere verzahnt ist, fällt es schwer, glaubwürdig von Veränderung zu erzählen. Anderson hegt jedoch unbestreitbar Sympathien für seine Figuren und will sie Wege finden lassen, die aus der Misere des verstockten Erwachsenen- und des gehemmten Kinderlebens führen. Aber diese Momente des Wandels kommen als schockartige Auftritte des Deus ex machina, weil die Figuren auf sich alleine gestellt wie Aufziehpüppchen immer die gleichen Tricks aufführen würden. Zugegeben: sehr extravagante Aufziehpüppchen.
Moonrise Kingdom ist ein liebenswerter, sehr einfallsreicher und gewollt infantiler Film. Ohne Scheu schwelgt Anderson in regressiven Fantasien, er idealisiert eine Jugend, die wahrscheinlich so nur aus der Perspektive eines verlebten Erwachsenen Sinn ergibt. Und es ist ein schlauer Film, auch wenn er sich seiner eigenen Cleverness vielleicht manchmal etwas zu bewusst ist. Aber geschenkt. Wes Anderson hat selten überzeugender alle Stärken seines stilistischen Repertoires ausgespielt und damit ein weiteres Kunststück vollbracht: unverkennbar zu bleiben und doch immer weiter Neuland zu erschließen.